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19.06.2020: Kindesmissbrauch ein Strafmaßproblem?
Ein kleiner Realitätscheck

Passwort im FadenkreuzStrafmaße, TeraBytes von Daten, Ermittlerbefugnisse und möglicherweise die nächste Legislaturperiode.
Wenn man einigen PolitikerInnen und AkteurInnen (auch AktivistInnen mit Petitionen) der letzten Monate zuhört, würde sich Kindesmissbrauch bald wegen höherer Strafmaße, die derzeit gefordert werden, sofort wesentlich verringern.

Im Gegensatz dazu äußern sich Experten zu erwarteten Folgen in Bezug auf Strafmaßverschärfungen ganz anders und sehen keinen effizienten Nutzen in solchen Forderungen.

Unabhängig davon, wer diese Forderungen zu höheren Strafmaßen stellt, sieht die Realität doch offenbar ganz anders aus:
TäterInnen, die sehr wohl um auch hohe Strafen wussten (derzeit sind 15 Jahre Strafzeit + prinzipiell unbefristeter Sicherungsverwahrung möglich), ließen sich davon eben nicht abschrecken und begingen diese Taten trotzdem.
Als Beispiel: Der mutmaßliche Haupttäter des Falls in Münster, 2020. Offenbar gut geplant, mit hohem Interesse, die Taten zu verheimlichen und gut zu verbergen, mutmaßlich in Komplizenschaft mit anderen.
Ein Einzelfall mit extrem neuer Technik und neuen Methoden? Eben nicht.

Es geht um den effektiven Schutz von Kindern gegen sexuellen Missbrauch, und so war auch die eigentliche Debatte im Bundestag im Rahmen einer "Aktuellen Stunde" am 18.06.2020 geplant, mit der Überschrift: "Sexuellen Missbrauch effektiv bekämpfen – Kinderschutz ausweiten und Prävention stärken".
Dabei gab es innerhalb der Debatte gute wie auch reichlich fehlgeleitete Beiträge, aber insgesamt fehlte leider ein fraktionsübergreifendes Engagement zu einer glasklaren Kinderschutzpolitik, wie es auch im Fall von Kinderrechten bisher war. Zurecht wurde dabei von mehreren Fraktionen die blockierende Haltung der Union kritisiert.

Eine Übersicht mit Faktencheck zu geäußerten Ansichten aus Politik, Polizei, Nachrichten und Fernsehen:

1) Höhere Strafmaße reduzieren die Anzahl an Taten

Wer sich ansieht, wie unterschiedlich Missbrauch an Kindern in verschiedenen Ländern verurteilt wird, wird feststellen, dass es da keine erklärbaren Unterschiede in Fallzahlen gibt. Auch ist es innerhalb Deutschlands nie zu einer erklärbaren Senkung von Fallzahlen durch härtere Strafen in diesem Strafbereich gekommen.
Auch die Kriminalpsychologen widersprechen dieser Annahme,
Triebtaten werden begangen, ohne vorher zu "berechnen", welche Strafe es dafür geben könnte.
Strafmaße sind in keinem Land der Welt und zu keinem Zeitpunkt ein abschreckendes Instrument gewesen, solche Straftaten wirklich zu begehen.
Damit sind Veränderungen an Strafmaßen in keiner Weise ein geeignetes Mittel, diese Straftaten zu reduzieren.

Aus unserer Sicht, die sich mit der Meinung von Fachleuten aus Kinderschutz und Justiz deckt, ist eine Anhebung des unteren Strafmaßbereichs besonders problematisch. Nach derzeitiger Gesetzeslage können beispielsweise auch Urlaubsaufnahmen als Kinderpornographie verurteilt werden, die weder in missbräuchlichem Zusammenhang, noch in missbräuchlicher Absicht entstanden sind, aber nach Ansicht von Staatsanwaltschaften und Richtern die Grenze zur Strafbarkeit überschreiten.
Auch die Tatsache, dass sich Jugendliche oder sogar Kinder gegenseitig Nacktbilder per Handy schicken, führt zunehmend zu Strafverfolgungen, auch wenn es dabei nicht zu Missbrauchshandlungen gekommen ist.
Es gibt also nach derzeitiger Gesetzeslage strafbare Situationen, die nichts mit tatsächlichem Kindesmissbrauch zu tun haben und sich in ganz erheblicher Weise von den Straftaten der Fälle von "Münster", "Lügde" oder "Bergisch Gladbach" unterscheiden.
Das Gesetz muss daher notwendigerweise einen breiten Rahmen vorsehen.

2) Die Täter werden immer perfider

Täter mit äußerst hohem Planungsgrad und einem ganzen System, das eine komplette Umgebung für den Missbrauch schafft, hat es schon immer gegeben. Fälle in der Vergangenheit wie Marc Dutroux, die "Colonia Dignidad" oder auch der Missbrauch an der Odenwaldschule belegen das in erschreckender Weise.

3) Verschlüsselte Datenträger: "Eine neue Dimension"

Es ist äußerst merkwürdig, dass sich im Jahr 2020 Experten der Kriminalpolizei zu solchen Äußerungen hinreißen lassen. Verschlüsselung ist schon seit mindestens 1995 weltweit kostenlos für jedermann erhältlich und sehr einfach einsetzbar (Stichwort "Pretty Good Privacy", PGP). Unternehmen und Einrichtungen sollten ohnehin immer mit verschlüsselten Datenträgern arbeiten, um im Fall von Diebstahl den Schutz der Daten zu gewährleisten. Dass Verschlüsselung auch privat zum Schutz vor weiteren Schäden aus Diebstahl Sinn macht, dürfte jedem klar sein.
Wenn dann Fachleute der Landeskriminalämter 25 Jahre nach weltweiter Technikverfügbarkeit Verschlüsselung als Neuheit empfinden, muss man sich doch mal ernsthaft über Ausbildung und Technik bei der Polizei Gedanken machen.

Ein ähnlich unprofessionelles Bild hat sich im gleichen Zusammenhang vor wenigen Tagen gezeigt. Wie der WDR am 17.06.2020 berichtete (->Beitrag auf WDR), konnte das LKA das Passwort des Laptops von Adrian V. im Missbrauchsfall Münster nicht knacken und hat es zurück zur Polizei Coesfeld gegeben. Dort wiederum habe man das Passwort aus einer Abwandlung eines bereits bekannten Passwortes nach einiger Zeit erraten und konnte so den Missbrauch aufdecken.
Aus unserer Sicht ist das äußerst unprofessionell seitens des LKA gewesen, da lexikalische Passwortangriffe (Wortlisten), Kombinatorik und ein wenig Social Engineering (Passwörter haben häufig etwas mit dem Umfeld einer Person, Interessen oder Tätigkeiten zu tun) Standard in der Herangehensweise beim Knacken von Passwörtern sind und zuerst durchgeführt werden, bevor man mit automatisierter "Brute Force"-Technik (sämtliche theoretische Kombinationen von Zeichen werden automatisiert geprüft) und entsprechendem Rechen- und Zeitaufwand an das Problem herangeht.
Eine Fachabteilung des LKA zur Auswertung von Datenträgern sollte dazu in der Lage sein, solche Standards zu beherrschen. Leider ist das aber kein Einzelfall. Uns ist bekannt, dass ein LKA in einem zurückliegenden Fall nicht einmal in der Lage war, normale Videokassetten einzulesen.

Im Fall Münster wäre es sicher zudem hilfreich gewesen, wenn die Polizei den betreffenden Serverraum im laufenden Betrieb durchsucht hätte, denn im laufenden Betrieb wäre man sicherlich an die Daten der verschlüsselten Festplatten gelangt (dann sind Festplatten "gemountet", die verschlüsselten Daten sind zugreifbar).

4) 300 Terabyte, 300.000 Stunden Videos, unfassbare Datenmengen

Vorweg: Es ist ohne Frage in den zurückliegenden und aktuellen großen Missbrauchsfällen fürchterlich, wie viel schreckliche Aufnahmen dort existieren und gesichtet werden mussten und müssen.
Zur Wahrung von Glaubwürdigkeit und Kompetenz sollten aber Polizei und Medien mit dem in letzter Zeit häufig genutzten Begriff "Terabyte" als Synonym für die Menge an Grausamkeiten vorsichtig sein.
Auf n-tv wurde sogar behauptet, dass 300.000 Stunden kinderpornographische Videos im Fall Münster gefunden worden seien. Diese Behauptung wurde zu einem Zeitpunkt als Titel einer Nachricht veröffentlicht, als laut Bericht die meisten Datenträger noch gar nicht entschlüsselt waren. Man wusste also überhaupt noch gar nicht, was auf den Platten zu finden ist, oder ob die sogar zu dem Zeitpunkt noch leer waren und als Vorbereitung für weitere Taten dienten.

Grundsätzlich sagt eine Datenmenge wie 1 Terabyte (1 TB) überhaupt gar nichts über die Anzahl von Aufnahmen aus. Zur Begriffsklärung nehmen wir als Beispiel ein normales Urlaubsvideo in üblicher Standard-HD-Auflösung, das im üblichen Format für YouTube erstellt werden soll. Um ein Video möglichst verlustfrei zu bearbeiten und zu schneiden, kann man wie in der Medienbranche üblich ein Videoformat verwenden, das solche verlustfreie Bearbeitung ermöglicht (Digital Intermediate). Dabei ergibt sich ein Speicherbedarf von mehr als 1.2 Terabyte pro Stunde.
Das gleiche Video mit dem gleichen Inhalt und exakt gleicher Spielzeit könnte man aber auch in schlechter Qualität und niedriger Auflösung für die Wiedergabe auf einem älteren Handy abspeichern. Dann kommt man auf gerade einmal 8.6 Megabyte pro Stunde, das ist das Ergebnis eines eigenen Tests mit einem Fernsehfilm.
Das bedeutet, dass allein eine hohe Auflösung des gleichen Films einen über 148.000 mal größeren Speicherbedarf haben kann.
Die Zeit für die Auswertung eines Films ist von der Spielzeit abhängig, nicht von der Auflösung oder dem Speicherbedarf.

Man darf daher den Terabyte-Begriff nicht als irgendwie sinnvolles "Maß" für die Anzahl oder Grausamkeit benutzen. Im Gegenteil: Die höhere Auflösung heutiger Aufnahmegeräte dürfte es erleichtern, Personen und Orte zu identifizieren. Eine professionellere Verwendung der Begriffe in Politik, Medien und bei der Polizei wäre wünschenswert.

Forderungen von ju care Kinderhilfe an die Politik und Polizeiarbeit

Nachdem es glücklicherweise wichtige Gesetzesänderungen gegeben hat, die wir sehr begrüßen (Cybergrooming mit Versuchsstrafbarkeit, verdeckte Ermittlung mit computergenerierten Bildern), hat der Bundestag am 18.06.2020 einen weiteren wichtigen und aus unserer Sicht guten Entwurf zu Hass, Hetze und Kinderpornographie im Internet verabschiedet. Dadurch werden Plattformbetreiber verpflichtet, entsprechende Beiträge nicht nur zu löschen, sondern auch inklusive der IP-Adresse an das Bundeskriminalamt (BKA) weiterzuleiten. Im Hinblick auf Kinderpornographie ist das aus unserer Sicht ein sehr guter Schritt, TäterInnen dingfest zu machen.

Die aktuelle Diskussion um die Anpassung des Sexualstrafrechts und des Strafrahmens muss aus unserer Sicht zwingend die nicht seltenen Fälle im Auge behalten, die sich massiv von den Fällen in Münster und Lügde unterscheiden, aber in den Debatten manchmal in den gleichen Topf geworfen werden:

  • Sexting unter Jugendlichen
  • Urlaubsaufnahmen (o.ä.) in offenbar nicht missbräuchlichem Zusammenhang
  • einvernehmliche sexuelle Handlungen von Personen, die sich altersbezogen knapp im strafbaren Bereich befinden (-> die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen über einen Zeitraum muss als Realität im Auge behalten werden, ebenso die allgemein anerkannte Tatsache, dass Sexualität in unterschiedlichen Phasen und Ausprägungen zum Menschsein seit Geburt dazugehört)

Vielleicht muss ohnehin eine klarere Abgrenzung zwischen pornographischen und nichtpornographischen Darstellungen erfolgen und im Strafrecht weniger interpretierbar definiert werden. Die diesbezügliche BGH-Rechtsprechung als Grundlage zu nehmen wäre dafür ausreichend und trennscharf genug, allerdings sind Ansichten von Staatsanwaltschaften und Richtern zu dieser Frage teils sehr unterschiedlich. Ein Rechtsbegriff sollte aber nicht so stark interpretierbar sein, wie es in der Praxis leider vorkommt.

Bei der Anpassung des Strafrechts ist auch unbedingt zu beachten, dass es gerade im Sexualstrafbereich eine nicht unerhebliche Zahl von Falschbeschuldigungen und Fehlurteilen gibt. Anerkannte Fachleute sprechen sogar von systemimmanenten Problemen, die solche Fehlurteile begünstigen.

Es bleibt aber noch sehr viel außerhalb des Strafrechts zu tun:

  • Verbesserung der Ausbildung und Personalstärke in Jugendämtern
  • Bessere Ausbildung, Ausstattung und Personalstärke der Polizei, damit z.B. auch verschlüsselte Datenträger schneller (oder überhaupt) über leistungsfähige Systeme ausgewertet werden können
  • Etablierung von Strukturen, dass Beweismaterial bei der Polizei nicht verschwinden oder manipuliert werden kann
  • Bessere Vernetzung von Behörden, ärztlichen Stellen, KiTas, Schulen und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, um bei Fällen von Missbrauch, Misshandlung oder Vernachlässigung besser und vor allem kindeswohlorientiert zu handeln
  • Stabile Finanzierung von Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe
  • Bessere Ausbildung von Familienrichtern
  • Stärkung der Präventions- und Aufklärungsarbeit
  • Einrichtung von bundesweiten Möglichkeiten, pädophil veranlagte Personen zu unterstützen, nicht zu Tätern zu werden
  • Dauerhafte Einrichtung von doppelten Schulsozialarbeitsstellen als Vertrauenspersonen. Doppelte Besetzung in Form von weiblicher und männlicher Stelle, um für Mädchen und Jungen bei dieser extrem sensiblen Thematik des Missbrauchs möglichst niederschwellige Vertrauenspersonen anbieten zu können. Durch die doppelte Besetzung wird auch maximal verhindert, dass ein Missbrauch durch die Vertrauensperson selbst möglich ist. Ein gegenseitiger Austausch hilft auch, schwierige Situationen mit verschiedenen Blickwinkeln und Ideen anzugehen
  • Kinderrechte ins Grundgesetz

Abschließend bleibt noch die Bitte an Familienmitglieder und andere Bezugspersonen von Kindern, bei Problemen nicht wegzuschauen.
Eine ganz wichtige Hilfe im Kampf gegen Kindesmissbrauch ist es auch, dass Kinder im Alltag erleben, dass ihre Gefühle und Gedanken ernst genommen werden. So erlernen sie, dass sie sich mit allen Dingen ihren Bezugspersonen auch anvertrauen können und nicht befürchten müssen, dass ihnen sowieso niemand zuhören würde oder etwas zu peinlich sei, um es mitzuteilen.
Starke Kinder sind die besser geschützten Kinder. Das ist auch eine gemeinsame Aufgabe, das zu verwirklichen.

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